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»Sie haben die Gebäulichkeiten meiner Meierei nicht gesehen, die
oberhalb des Hauses stehen. Sie sind durch Fichten verdeckt. Oh,
sie ist in Sicherheit. Uebrigens gibt's keine üblen Subjekte in
unserem Tale; wenn ich zufällig auf solche stoße, schiebe ich sie
zur Armee ab, wo sie ausgezeichnete Soldaten sind.« »Armes
Mädchen!« sagte Genestas.
»Ah! die Leute im Bezirk beklagen sie gar nicht,« erwiderte
Benassis, »sie finden sie im Gegenteil recht glücklich; doch
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besteht der Unterschied zwischen ihr und den andern Weibern,
daß Gott denen Kraft und ihr Schwäche verliehen hat; und sie
sehen das nicht!«
In dem Augenblick, wo die Reiter in die Grenobler Straße
einbogen, machte Benassis, der die Wirkung dieses neuen
Anblicks auf Genestas voraussah, mit befriedigter Miene halt, um
sich an seiner Ueberraschung zu weiden. Zwei sechzig Fuß hohe
Laubbahnen schmückten, so weit das Auge reichte, einen breiten,
wie eine Gartenallee gewölbten Weg und bildeten ein natürliches
Denkmal, das geschaffen zu haben, eines Menschen Stolz bilden
konnte. Die nicht beschnittenen Bäume zeigten alle die ungeheure
grüne Krone, welche die italienische Pappel zu einem der
prächtigsten Gewächse macht. Eine Straßenseite, die bereits im
Schatten lag, stellte eine unendliche Mauer aus dunklen Blättern
dar, während die andere, stark belichtet durch den
Sonnenuntergang, der den jungen Trieben Goldtinten verlieh, den
Kontrast der Spiele und Reflexe zeigte, welche Licht und sanfter
Wind auf ihrem bewegten Vorhange hervorriefen.
»Sie müssen sehr glücklich hier sein,« rief Genestas. »Alles hier
ist ein Vergnügen für Sie.«
»Die Liebe zur Natur, mein Herr,« antwortete der Arzt, »ist die
einzige, welche menschliche Hoffnungen nicht täuscht. Da gibt's
keine Enttäuschungen. Das sind zehnjährige Pappeln. Haben Sie
je welche gesehen, die so schön gekommen sind wie meine?«
»Gott ist groß!« sagte der Offizier, in der Mitte der Straße, von
der er weder Anfang noch Ende entdeckte, haltmachend.
»Sie erweisen mir eine Wohltat!« rief Benassis. »Mit Vergnügen
höre ich Sie wiederholen, was ich oft inmitten dieser Allee gesagt
habe. Sicherlich waltet hier etwas Religiöses. Wir sind hier wie
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zwei Punkte, und das Gefühl unserer Kleinheit führt uns immer zu
Gott zurück.«
Sie ritten nun langsam und schweigend einher und horchten auf
den Tritt ihrer Pferde, der in dieser Laubgalerie widerhallte, wie
wenn sie unter einem Domgewölbe gewesen wären.
»Wie viele Gemütsbewegungen gibt es doch, von denen die
Stadtleute gar keine Ahnung haben!« sagte der Arzt. »Riechen Sie
den Duft, den das Bienenharz der Pappeln und die
Ausschwitzungen der Lärchenbäume ausströmen? Welche
Köstlichkeiten!«
»Horchen Sie!« rief Genestas. »Halten wir!«
Da hörten sie in der Ferne Gesang.
»Ist's eine Frau oder ein Mann? Ist's ein Vogel?« fragte der Major
ganz leise. Ist's die Stimme dieser großen Landschaft?«
»Von alledem etwas,« antwortete der Arzt, der von seinem Pferde
stieg und es an einen Pappelzweig band. Dann gab er dem Offizier
ein Zeichen, ihn nachzuahmen und ihm zu folgen. Mit langsamen
Schritten gingen sie einen Saumpfad entlang, der von zwei in
Blüte stehenden Weißdornhecken, die in der feuchten Abendluft
betäubende Düfte ausströmten, umsäumt wurde. Die
Sonnenstrahlen drangen mit einer gewissen Wucht, die der von
dem langen Pappelvorhang geworfene Schatten noch fühlbarer
machte, auf den Pfad, und diese kräftigen Lichtstrahlen hüllten
mit ihren roten Tinten eine am Rande dieses Landweges liegende
Hütte ein. Goldstaub schien auf ihr Strohdach geworfen zu sein,
das gewöhnlich braun wie eine Kastanienschale war und dessen
zerfallene Firste von Hauswurz und Moos begrünt waren. Man
sah die Hütte in diesem Lichtnebel kaum; die alten Mauern aber,
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die Tür, alles wies einen flüchtigen Glanz auf, alles war so
unvermutet schön, wie es ein Menschenantlitz unter der
Herrschaft einer Leidenschaft, die es erhitzt und färbt, für
Augenblicke ist. Man begegnet im Freiluftleben jenen ländlichen
und vergänglichen Lieblichkeiten, die einem den Wunsch des
Apostels entfahren lassen, der zu Jesus Christus im Gebirge sagte:
»Hier laßt uns Hütten bauen, hier ist gut sein.« Die Landschaft
schien in diesem Augenblick eine reine und süße Stimme zu
besitzen, so rein und süß war sie, eine traurige Stimme jedoch,
wie der im Westen verglühende Schimmer, ein unbestimmtes Bild
des Todes, eine durch die Sonne am Himmel göttlich gegebene
Ankündigung, wie sie auf Erden die Blumen und die hübschen
Eintagsinsekten geben. Zu dieser Stunde sind die Sonnentöne von
Melancholie geschwängert, und jener Gesang war melancholisch;
ein Volkslied übrigens, ein Sang von Liebe und Leid, der ehedem
dem Nationalhasse Frankreichs gegen England gedient, dem
Beaumarchais aber seine wahre Poesie wiedergegeben hat, indem
er ihn auf die französische Bühne übertrug und ihn einem Pagen
in den Mund legte, der seiner Herrin sein Herz öffnet. Diese
Weise war ohne Worte auf einen klagenden Ton moduliert, von
einer Stimme, die in die Seele bebte und sie rührte.
»Das ist der Schwanengesang,« sagte Benassis. »In dem
Zeitraume eines Jahrhunderts tönt diese Stimme keine zwei Mal in
die Ohren der Menschen. Beeilen wir uns, wir müssen ihn am
Singen hindern! Das Kind bringt sich um, es wäre grausam, ihm
noch länger zuzuhören ... Schweig doch still, Jacques! Heda, sei
still!« rief der Arzt.
Die Musik hörte auf. Genestas blieb unbeweglich und verdutzt
stehen. Eine Wolke bedeckte die Sonne, Landschaft und Stimme
waren zugleich still geworden. Schatten, Kühle und Schweigen
machten den sanften Lichtfluten, den heißen Ausstrahlungen der
Atmosphäre und den Gesängen des Kindes Platz.
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